“Darum lasst nun einen jeden seine Pflicht lernen und mit allem Eifer das Amt ausüben lernen, zu dem er bestimmt worden ist.” (Lehre und Bündnisse 107:99).
Lehre und Bündnisse 107:68–100 – Weisheit, Ordnung und Gleichgewicht im Priestertum
Der letzte Teil von Abschnitt 107 schließt die große Priestertumsoffenbarung ab. Nachdem in den Versen 1–32 die beiden Priestertümer erklärt wurden und in den Versen 33–67 die Ämter und Räte beschrieben sind, wendet sich der Herr hier den Prinzipien der Leitung, der Entscheidungsfindung und dem Ausgleich zwischen geistiger und administrativer Verantwortung zu. Diese Verse zeigen, wie das Reich Gottes auf Erden in Ordnung geführt werden soll – „denn mein Haus ist ein Haus der Ordnung, spricht Gott, der Herr, und nicht ein Haus der Verwirrung“ (vgl. L&B 132:8).
Weisheit und Rat in der Leitung (Verse 68–71)
Die Offenbarung beginnt hier mit einer wichtigen Richtlinie: Entscheidungen in der Kirche sollen „in aller Rechtschaffenheit, Heiligkeit und Demut, mit Langmut und Glauben und mit Tugend und Erkenntnis, gemäß dem, was dem Herrn wohlgefällig ist“ (Vers 30), getroffen werden. In den Versen 68–71 wird dies auf die Rolle der Pfähle und Gemeinden angewandt. Der Herr gebietet, dass örtliche Angelegenheiten durch die jeweiligen Räte bearbeitet werden und dass weise Männer in die Leitung berufen werden.
Diese Betonung von Weisheit erinnert an die biblische Tradition: Schon Mose beriet sich mit Jethro, der ihm riet, weise Männer über Tausende, Hunderte, Fünfzige und Zehnen einzusetzen (2. Mose 18:21–22). Genauso betont Abschnitt 107, dass Leitung nicht allein getragen werden soll, sondern durch Räte und Zusammenarbeit. Elder M. Russell Ballard sagte in einer Generalkonferenz: „In der Kirche Jesu Christi regieren wir niemals alleine. Wir beraten uns, und in Räten empfangen wir Inspiration“ (Konferenz, April 1994). Diese Struktur schützt vor Machtmissbrauch und stellt sicher, dass der Geist Gottes in kollektiver Weisheit wirkt.
Gleichgewicht zwischen Priestertumsämtern (Verse 72–76)
Ein weiterer Schwerpunkt dieser Verse ist die Balance zwischen den verschiedenen Priestertumsämtern. Vers 72 erklärt, dass die Bischöfe „Richter in Israel“ sein sollen, die mit Unterscheidungsvermögen und Milde handeln. Der Bischof trägt dabei sowohl eine geistige als auch eine zeitliche Verantwortung.
In den Versen 73–76 wird deutlich, dass Bischöfe nicht unabhängig handeln, sondern dem Rat der Hohenpriester und letztlich der höheren Führung der Kirche unterstellt sind. Dies schafft ein Gleichgewicht: Kein Amt im Priestertum ist „größer“ als das andere, sondern jedes wirkt im Zusammenspiel. Präsident Dallin H. Oaks erklärte: „Das Priestertum ist kein Instrument persönlicher Macht, sondern ein Werkzeug im Dienst an Gott und an seinen Kindern“ (Generalkonferenz, Oktober 2019). Dieses Verständnis verhindert Hierarchie im weltlichen Sinn und betont die dienende Natur des Priestertums.
Der Hohe Rat und die Siebziger (Verse 77–84)
In diesen Versen beschreibt der Herr die Aufgabe des Hohen Rates der Kirche und die Berufung der Siebziger. Der Hohe Rat ist nach Vers 78 ausdrücklich dazu bestimmt, „schwierige Fragen zu entscheiden, die in der Kirche auftreten und die nicht durch die Räte eines Bischofs oder durch die Richter an deren Ort entschieden werden können“. Damit ist klar, dass der Hohe Rat für besonders gewichtige Angelegenheiten zuständig ist, die über die örtliche Ebene hinausgehen.
Später folgt in Vers 81 eine bemerkenswerte Klarstellung: „Es gibt niemanden, der der Kirche angehört, der von diesem Rat der Kirche ausgenommen ist.“ Das bedeutet, dass die Zuständigkeit des Hohen Rates alle Mitglieder der Kirche einschließt – ungeachtet von Stellung, Berufung oder Verantwortung. Dieses Prinzip unterstreicht die Gleichheit aller Mitglieder vor der Ordnung des Priestertums: niemand ist von der Rechenschaft gegenüber der Kirche ausgenommen.
So entsteht ein ausgewogenes Bild: Der Hohe Rat soll schwierige und gewichtige Fragen klären (V. 78) und seine Vollmacht gilt universell innerhalb der Kirche (V. 81). In Verbindung mit den Siebzigern, die in den Versen 82–84 als besondere Missionare für die Völker der Erde beschrieben werden, zeigt sich das Prinzip, dass das Priestertum sowohl ordnend in der Kirche als auch bezeugend in der Welt wirkt.
Die Aufgaben der präsidierenden Ämter (Verse 85–92)
In diesen Versen beschreibt der Herr detailliert die Aufgaben derjenigen, die in den verschiedenen Ämtern des Priestertums präsidieren. Ein Präsident über Diakone, Lehrer oder Priester soll nicht nur eine organisatorische Funktion ausüben, sondern hat die Pflicht, mit seinen Brüdern zu Rate zu sitzen, sie in ihren Aufgaben zu unterweisen und so für geistiges Wachstum zu sorgen (Verse 85–87).
Besonders hervorgehoben wird das Amt des Bischofs, der als Präsident des Aaronischen Priestertums über die Priester präsidiert (Vers 88). Damit wird deutlich, dass der Bischof nicht nur für die zeitlichen Belange der Gemeinde zuständig ist, sondern auch eine wichtige geistliche Funktion im Zusammenhang mit dem Priestertum Aarons trägt.
Auch im Melchisedekischen Priestertum gibt es präsidierende Ämter: Der Präsident über die Ältesten präsidiert über 96 Älteste und hat ebenfalls die Aufgabe, sie zu lehren und mit ihnen zu beraten (Vers 89). Im Unterschied dazu wird in Vers 90 betont, dass die Präsidentschaft der Siebziger eine andere Berufung hat – nämlich in alle Welt zu reisen und das Evangelium zu verkünden.
Der Höhepunkt dieser Passage ist jedoch Vers 91–92: Der Präsident des Hohen Priestertums, also der Präsident der ganzen Kirche, soll „wie Mose“ sein – ein Prophet, Seher, Offenbarer, Übersetzer und Träger aller Gaben Gottes. Hier wird das Amt des Propheten und Präsidenten der Kirche in seiner einzigartigen Stellung und göttlichen Berufung beschrieben.
Für uns heute wird damit klar: Jede Führungsaufgabe in der Kirche – ob im Diakonat oder im Amt des Propheten – ist auf Unterweisung, Rat, geistliches Wachstum und Dienst ausgerichtet. Autorität bedeutet im Reich Gottes immer Verantwortung vor Gott und den Menschen.
Ordnung und Ausgleich in allen Dingen (Verse 93–100)
Der Abschnitt endet mit einer Betonung von Ordnung und Zusammenarbeit innerhalb der Kirche. In den Versen 93–100 zeigt der Herr, dass es bei allen Priestertumsämtern und Räten nicht um persönliche Überordnung, sondern um gegenseitige Ergänzung und Zusammenarbeit geht. Jede Berufung hat ihre spezifische Aufgabe, und die verschiedenen Ämter wirken zusammen, um die Kirche in Rechtschaffenheit zu führen.
Besonders hervorzuheben ist Vers 99:
„Darum lasst nun einen jeden seine Pflicht lernen und mit allem Eifer das Amt ausüben lernen, zu dem er bestimmt worden ist.“
Hier wendet sich die Offenbarung direkt an jedes Mitglied: Priestertumsvollmacht ist nicht nur eine Lehre für die Kirchenleitung, sondern betrifft jeden Diener des Herrn in seinem Verantwortungsbereich.
Dieser Vers hat zeitlose Gültigkeit. Paulus schrieb an die Korinther, dass die Kirche wie ein Leib sei, in dem jedes Glied seine Funktion erfüllt (1. Korinther 12:12–27). Ebenso ruft Abschnitt 107 uns dazu auf, unsere Aufgabe treu zu erfüllen, egal wie groß oder klein sie erscheint. Präsident Gordon B. Hinckley fasste dies einmal zusammen:
„Sei in deiner Berufung treu, wie unscheinbar sie auch erscheinen mag. Im Werk des Herrn ist keine Berufung unbedeutend“ (Generalkonferenz, Oktober 1995).
Anwendung für heute
Für heutige Mitglieder enthält dieser Abschnitt mehrere Schlüsselgedanken:
- Leitung geschieht in Räten – Entscheidungen werden im Geist der Einigkeit getroffen.
- Es gibt Ausgleich zwischen den Ämtern – niemand steht über dem anderen; jedes Priestertum wirkt im Zusammenspiel.
- Treue in der eigenen Berufung – jeder Einzelne ist aufgefordert, seine Pflicht gewissenhaft zu erfüllen.
- Einheit durch den Heiligen Geist – wahre Einstimmigkeit entsteht, wenn der Geist Gottes Zeugnis gibt.
Diese Prinzipien sind nicht nur auf Kirchenstrukturen anwendbar, sondern auch auf Familie, Beruf und persönliche Nachfolge Christi. Überall, wo wir Verantwortung tragen, können wir die Weisheit des Rates, die Demut des Dienens und die Einheit im Geist suchen.
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