“Dank sei deinem Namen, o Herr, Gott Israels, der du den Bund hältst und deinen Dienern Barmherzigkeit erzeigst, die mit ganzem Herzen untadelig vor dir wandeln” (Lehre und Bündnisse 109:1).
Lehre und Bündnisse 109 – Historischer Hintergrund und Bedeutung des Weihungsgebets
Als der Tempel in Kirtland am 27. März 1836 geweiht wurde, war dies ein besonderer Höhepunkt in der frühen Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Der Bau hatte enorme Opfer verlangt: die Mitglieder waren arm, vielfach verfolgt, und doch hatten sie mit ihrer Arbeitskraft, ihren Gütern und ihrem Glauben dieses erste Haus des Herrn in dieser Evangeliumszeit errichtet. Joseph Smith verfasste unter Inspiration das Weihungsgebet, das in L&B 109 überliefert ist. Dieses Gebet ist nicht nur historisches Dokument, sondern zugleich geistliches Muster für spätere Tempelweihungen und für das Beten in persönlichem Maßstab.
Die Umstände, die zu diesem Gebet führten, offenbaren zentrale Lehren über Salbung und Vollmacht, Vergebung, Erhöhung und die Natur des Gebets. Vier Punkte treten dabei besonders hervor.
1. Salbungshandlungen schon vor der Tempelweihung (Vers 35)
Joseph Smith betete:
„Lass die Salbung deiner Diener mit Macht aus der Höhe auf sie gesiegelt sein.“ (L&B 109:35)
Dieser Satz verweist auf Handlungen, die bereits vor der eigentlichen Tempelweihung durchgeführt wurden. Historische Berichte zeigen, dass in den Tagen vor dem 27. März 1836 im Tempel verschiedene heilige Handlungen stattfanden. Schon im Januar und Februar 1836 wurden Waschungen und Salbungen vollzogen, die als eine Vorstufe zu späteren Tempelzeremonien gelten. Am 21. Januar 1836 erlebten Joseph Smith und andere Führer bemerkenswerte Visionen und Offenbarungen, nachdem sie mit „heiligen Salbungen“ vorbereitet worden waren (vgl. History of the Church, Bd. 2, S. 379–381).
Diese frühen Waschungen und Salbungen hatten noch nicht die volle Form, die später im Nauvoo-Tempel entwickelt wurde, doch sie standen bereits im Zusammenhang mit der Verheißung „Macht aus der Höhe“ zu empfangen (vgl. L&B 95:8–9). Die Brüder verstanden diese Handlungen als symbolische Vorbereitung auf die Ausgießung des Geistes und als Stärkung für ihre Berufung.
Wenn Joseph in L&B 109:35 um die Siegelung dieser Salbungen mit himmlischer Macht bittet, zeigt das zweierlei: erstens das Bewusstsein, dass die physischen Handlungen ohne göttliche Bestätigung unvollständig wären; zweitens, dass die Salbung als heiliges Muster schon vor der Tempelweihung im Kirtland-Tempel verankert war und später in der Kirche zu einem festen Bestandteil des Tempeldienstes wurde.
2. Joseph Smiths Bereitschaft zur Vergebung (Vers 50)
Ein besonders bemerkenswerter Abschnitt des Gebets lautet:
„Habe Erbarmen, o Herr, mit dem üblen Pöbel, der dein Volk verjagt hat, damit sie aufhören zu plündern, damit sie von ihren Sünden umkehren, sofern Umkehr zu finden ist.“ (L&B 109:50)
Damit zeigt Joseph Smith eine Haltung, die über das Menschliche hinausgeht. Nur wenige Jahre zuvor war die Kirche in Missouri schwer verfolgt, geplündert und vertrieben worden (1833). Viele Heilige hatten ihr Hab und Gut verloren, manche waren misshandelt worden. Die Bitten um göttlichen Schutz und Rechtfertigung in früheren Offenbarungen (vgl. L&B 103; 105) hätten es verständlich erscheinen lassen, wenn Joseph hier um Strafe oder Gericht gebeten hätte. Doch er tat das Gegenteil: er flehte um Erbarmen für die Verfolger.
Diese Haltung erinnert stark an Jesu Worte am Kreuz: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lukas 23:34), und an Stephanus, der seine Mörder segnete (Apostelgeschichte 7:60). Joseph Smith zeigte hier, dass er als Prophet Jesu Christi bemüht war, denselben Geist der Feindesliebe (vgl. Matthäus 5:44) zu leben.
Zugleich macht die Formulierung „sofern Umkehr zu finden ist“ deutlich, dass Vergebung nicht blind ist, sondern immer mit dem Angebot der Umkehr verbunden bleibt. Joseph bat Gott, den Gegnern Gelegenheit zur Reue zu geben – ein Zeugnis seines Vertrauens in die verändernde Kraft des Evangeliums.
3. Erste Erwähnung von „Erhöhung“ im Zusammenhang mit Tempelsegnungen (Vers 69)
Ein besonders bedeutender Vers lautet:
„Habe Erbarmen, o Herr, mit seiner Frau und seinen Kindern, damit sie in deiner Gegenwart erhöht und von deiner hegenden Hand erhalten werden mögen.“ (L&B 109:69)
Dies ist das erste Mal, dass in Lehre und Bündnisse das Wort „Erhöhung“ im direkten Zusammenhang mit Tempelsegnungen erscheint. Der Begriff deutet über die einfache Errettung hinaus: Erhöhung bedeutet, in die Gegenwart Gottes zurückzukehren und in der höchsten Herrlichkeit der celestischen Ordnung zu leben (vgl. L&B 132:19–24).
Dass Joseph Smith diesen Ausdruck in einem Tempelweihungsgebet verwendete, macht deutlich: der Tempel ist nicht nur ein Ort des Lernens oder des Segens für dieses Leben, sondern ein Tor zur höchsten Herrlichkeit. Die Segnungen, die dort vermittelt werden, sind auf Familie, Ehe und Nachkommenschaft ausgerichtet – „Frau und Kinder“ sollen gemeinsam in der Gegenwart Gottes erhöht werden.
Dies war ein geistlicher Wendepunkt: Von nun an stand die Vorstellung im Raum, dass der Tempel nicht nur eine Stätte für Offenbarung und Kraft ist, sondern auch das Mittel, die Fülle des Heils – die Erhöhung – zu erlangen. Spätere Offenbarungen in Nauvoo bauten auf diesem Fundament auf und führten zu den Verordnungen für Ewige Ehen und Siegelungen.
4. L&B 109 als Mustergebet für Tempelweihungen und persönliches Beten
Das Weihungsgebet des Kirtland-Tempels hat bleibende Bedeutung. Einerseits ist es Prototyp für alle späteren Tempelweihungen. Die Kirche hat sich daran orientiert, wenn neue Tempel in aller Welt geweiht werden: die Gebete sind inspiriert, oft von den Präsidierenden Aposteln verfasst, und enthalten Bitten um Schutz, Heiligung und Segnungen für das Volk Gottes – ganz im Geist von L&B 109.
Andererseits zeigt das Gebet ein Muster für persönliches Beten:
- Es verbindet Dank für vergangene Segnungen mit Bitte um künftige Hilfe.
- Es bittet nicht nur für die eigenen Reihen, sondern auch für Außenstehende – sogar für Feinde.
- Es sucht nicht bloß weltliche Hilfe, sondern zielt auf das ewige Heil: auf Erhöhung, auf Heiligung, auf die Gegenwart Gottes.
- Es erkennt an, dass Segnungen nur durch Jesu Christi Sühnopfer möglich sind (vgl. L&B 109:4).
So wird das Weihungsgebet zum Lehrstück darüber, wie Gebet aussehen kann: demütig, umfassend, auf Christus zentriert und auf ewig gültige Segnungen ausgerichtet.
Schlußgedanke
Das Weihungsgebet des Kirtland-Tempels bleibt ein Dokument von bleibender theologischer und geistlicher Tiefe – ein Spiegel der frühen Geschichte der Kirche und ein Fundament für das Verständnis des Tempels bis heute.
Zum Schluss sei uns die Einladung Präsident Nelsons nahegebracht:
„Joseph Smiths Weihungsgebet für den Kirtland-Tempel ist eine Anleitung dazu, wie der Tempel Sie und mich geistig befähigt, die Herausforderungen des Lebens in diesen Letzten Tagen zu meistern. Ich lege Ihnen ans Herz, dieses Gebet, niedergeschrieben im Buch Lehre und Bündnisse, Abschnitt 109, aufmerksam zu lesen. “
Möge auch Ihr Herz geweckt sein, in diesem Gebet Trost, Kraft und himmlische Perspektiven zu finden – gerade in diesen Tagen, in denen wir Führung und geistige Ermächtigung so dringend benötigen.
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