Dienstag, 16. September 2025

Den Menschen Erretter zu sein

 

(Bild: Quelle)

“Denn es ist hingestellt worden, der Welt ein Licht zu sein und den Menschen Erretter zu sein;” (Lehre und Bündnisse 103:5). 

Lehre und Bündnisse 103 – Historischer Kontext und geistliche Lehren 

Als Joseph Smith am 24. Februar 1834 in Kirtland (Ohio) L& B 103 empfing, standen die Heiligen unter dem Eindruck der Gewalt, die sie im Sommer und Herbst 1833 aus Jackson County (Missouri) vertrieben hatte. Parley P. Pratt und Lyman Wight waren soeben – am 22. Februar – nach einer mühseligen Winterreise in Kirtland eingetroffen, um zu berichten und um Hilfe zu erbitten. Zwei Tage später kam der neu gebildete Hohe Rat in Josephs Haus zusammen; dort wurde beraten, wie die Vertriebenen zu unterstützen seien – und in diesem unmittelbaren Kontext kam die Offenbarung, die heute als L& B 103 überliefert ist. 

Der Herr beginnt die Offenbarung mit einer Wegweisung: „ich will euch eine Offenbarung und ein Gebot geben, damit ihr wisst, wie ihr … handeln sollt“ (V. 1). Er erklärt die paradoxe Mischung aus zugelassener Drangsal und göttlicher Zeitplanung: Die Heiligen seien „gejagt und geschlagen“ worden, doch sein Gericht komme „zu der von mir bestimmten Zeit“ (V. 2; vgl. V. 3–4). Zugleich benennt der Text selbstkritisch Anteile der Heiligen: eine „schwere und schmerzliche Züchtigung, weil sie nicht gänzlich auf die Weisungen und Gebote gehört haben“ (V. 4). Das ist theologisch scharf – und tröstlich, denn unmittelbar folgt die Verheißung eines bindenden Beschlusses: Wenn das Volk „von genau dieser Stunde an auf den Rat … hört“, werde es beginnen, die Feinde zu überwinden und nicht mehr aufhören, bis „die Erde den Heiligen gegeben“ sei (V. 5–7). „Nach viel Drangsal kommt der Segen“ (V. 12) – ein Kernsatz, der die ganze Deutung trägt. 

In der Mitte des Abschnitts rückt die „Erlösung Zions“ in den Blick: „Die Erlösung Zions muss notwendigerweise durch Macht kommen“ (V. 15). Das geschieht nicht als Wildwuchs, sondern durch Führung: „ich werde meinem Volk einen Mann erwecken, der es führen wird, wie Mose die Kinder Israel geführt hat“ (V. 16). Die Mose-Typologie wird explizit entfaltet: Israelitische Identität (V. 17), Auszug aus Knechtschaft „mit ausgestrecktem Arm“ (V. 17), göttliche Gegenwart und Engel, die „vor euch hergehen“ (V. 19–20). L& B 103 ist damit keine rein militärische Mobilmachung; es ist ein Exodus-Text der Letzten Tage, der Gehorsam, Sammlung und göttliches Mitgehen zusammenbindet. 

Wie setzten die Heiligen die Offenbarung um? Der zweite Teil (V. 21–34, 37–40) konkretisiert die Organisation. Joseph Smith wird mit dem „Diener“ aus dem Gleichnis in L& B 101 verglichen (V. 21) und erhält den Auftrag, die „Stärke“ des Hauses zu sammeln – besonders Jünglinge und Männer mittleren Alters (V. 22). Gemeinden sollen „weise Männer mit ihren Geldern hinaufsenden und Land kaufen“ (V. 23) – also rechtlich und wirtschaftlich handeln, nicht bloß marschieren. Dann folgt die berühmte Staffelung: wenn möglich 500, sonst 300, mindestens 100 Männer (V. 30–34). Zudem werden acht Brüder beauftragt, „zwei und zwei“ durch die Gebiete zu reisen und für das Zionslager zu werben (V. 37–40; vgl. die Paraphrase und Kommentierung). In der Praxis brauchten die Rekrutierungen zwei Monate; am 8. Juni 1834 erreichte das „Camp of Israel“ seine Höchststärke von 207 Personen. 

Waren die Heiligen sicher, ob sie kämpfen sollten oder friedlich eine Lösung suchen? L& B 103 gibt eine spannungsvolle, bewusst zweigleisige Antwort. Auf der einen Seite steht deutliche Kriegs-Sprache: Nach rechtlichen Schritten („diese Zeugnisse gegen sie vor mich gebracht habt“, V. 24) wird gesagt: „ihr sollt mich an meinen Feinden rächen“ (V. 25–26); und: „Keiner soll Angst davor haben, um meinetwillen sein Leben niederzulegen“ (V. 27–28). Das klingt nach Bereitschaft zum Äußersten. Auf der anderen Seite betont derselbe Abschnitt rechtmäßige Verfahren (Landkauf, Petitionen, Zusammenarbeit mit staatlicher Gewalt) und stellt die göttliche Gegenwart als entscheidende „Macht“ in Aussicht – nicht die private Waffe. Historisch zeigt der Weg vom Zionslager genau diese Doppelstrategie: Joseph und Gesandte sondierten den Schutz durch den Gouverneur und die Staatsmiliz; als Gouverneur Dunklin die Unterstützung verweigerte und die Lage in Jackson/Ray Counties zu eskalieren drohte, führte der Herr in einer weiteren Offenbarung (L& B 105) weg von einer unmittelbaren militärischen Rückeroberung. Das Zionslager zerstreute sich geordnet; der Zweck der „Sammlung“ blieb jedoch – als geistige Schulung und Vorbereitung künftiger Führer. Mit anderen Worten: L& B 103 forderte Mut bis zur Opferbereitschaft, band diesen Mut aber an Rechtswege, priesterliche Ordnung, göttliche Führung – und an Gottes Timing. Die Kirche Jesu ChristiDoctrine and Covenants Central 

Zur Wegstrecke: Zwischen Kirtland (Ohio) und den Siedlungen der Heiligen in Jackson County (Missouri) lagen grob 900–1000 Meilen (≈1450–1600 km), je nach Route. Zeitgenössische Darstellungen sprechen beim Marsch vom Zionslager sogar von einer „tausend Meilen“-Strecke; die Karten der Joseph-Smith-Papers zeigen die Etappen zwischen Mai und Juni 1834. Für berittene Winterreise (ohne regelmäßige Pferdewechsel wie bei einer Postkutsche) ist realistisch mit etwa 30–40 km pro Tag im Durchschnitt zu rechnen – mit Wetter-, Ruhe- und Reparaturtagen. Für ~1450 km ergäbe das in der Praxis rund vier bis sechs Wochen; bei Frost, Flussquerungen und Schneematsch auch länger. Das Zionslager selbst legte große Tagesetappen zu Fuß und mit Wagen zurück und war – inklusive An- und Rückwegen sowie Aufenthalten – mehrere Wochen unterwegs. Diese Größenordnung hilft, den Mut der damaligen Freiwilligen einzuordnen. Die Kirche Jesu Christijosephsmithpapers.org 

Welche Lehren lassen sich heute aus L& B 103 ziehen? Erstens: Gehorsam sofort („von genau dieser Stunde an“, V. 5) ist ein Türöffner für göttliche Hilfe. Wir lernen, dass himmlische Beschlüsse reale Folgen haben – aber an Bedingungen geknüpft sind (V. 5–8, 12). Zweitens: „Erlösung … durch Macht“ (V. 15) heißt nicht blinde Kraft, sondern gottbefohlene Ordnung: sammeln, organisieren, rechtliche Möglichkeiten ausschöpfen, Ressourcen weise einsetzen (V. 22–23, 30–34, 37–40). Drittens: Führung im Mose-Modus. Gott „erweckt … einen Mann“ (V. 16), doch die Verheißung richtet sich an das ganze Bundesvolk: Engel und Gegenwart gehen „vor euch her“ (V. 19–20). Das legt nahe, heute sowohl geordnete Leitung als auch das gemeinsame, treue Mitgehen hochzuhalten. Viertens: Zions Auftrag ist missionarisch-diakonisch gedacht: Die Heiligen sollen der Welt „ein Licht“ sein und „den Menschen Erretter“ (V. 9) – Salz, das nicht schal wird (V. 10). Das schützt vor der Versuchung, „Zion“ auf Territorium oder Schlagkraft zu reduzieren. Fünftens: Opferbereitschaft (V. 27–28) bleibt ernst – doch sie steht unter dem Vorbehalt von Recht, Rat und Geist. Wenn der Herr einen Kurswechsel gibt (vgl. später L& B 105), ist Gehorsam keine Niederlage, sondern Reifung. 

Die alttestamentlichen Parallelen, die L& B 103 selbst anspielt, vertiefen das Bild. Der Mose-Verweis (V. 16–18) ruft die Exodus-Erfahrung wach: Israel wird „mit ausgestrecktem Arm“ geführt – nicht durch Überzahl, sondern durch Gottes Gegenwart. Auch Gideon erinnert: Gott reduziert und prüft (Ri 7), um zu zeigen, dass Rettung nicht aus Menschenhand kommt; L& B 103 staffelt die erwartete „Stärke“ (500/300/100) und lässt offen, dass ein kleiner, aber gehorsamer Rest ausreichen kann. Und wie Joschafat (2 Chr 20) lernt das Zionslager, dass Siege bisweilen durch göttliches Eingreifen kommen (man denke an den Sturm am Fishing River, der eine Eskalation verhinderte), während das Volk singt, fastet, ordnet, bittet – kurz: seinen Teil tut, ohne die Sache zu usurpieren. Diese AT-Erfahrungen sind keine romantischen Ausnahmen, sondern Muster des Bundes: „Nach viel Drangsal kommt der Segen“ (V. 12). 

Fasst man alles zusammen, ist L& B 103 ein Text für Zeiten, in denen Gerechte Unrecht erleiden und zwischen Mut und Mäßigung lavieren müssen. Der Herr ruft zu beherztem Handeln auf – aber unter seiner Ordnung: sammeln statt zerstreuen, rechtlich handeln statt rächen, bereit sein zu opfern statt auszuteilen, und vor allem: auf Rat hören „von genau dieser Stunde an“ (V. 5). In diesem Sinn ist der Marsch von Kirtland nach Missouri kein verlorener Kriegszug, sondern ein gelebtes Gleichnis: Gott bildet ein Volk, das in der Drangsal reift, damit es Licht, Salz und „Erretter“ für andere wird (V. 9–10). Das bleibt eine herausfordernde, tröstliche Lektion – damals wie heute. 

findechristus.org

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