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„Siehe, viele gibt es, die berufen sind, aber wenige werden erwählt. Und warum werden sie nicht erwählt? Weil sie ihr Herz so sehr auf die Dinge dieser Welt gesetzt haben und nach den Ehren der Menschen streben, dass sie diese eine Lehre nicht lernen.“ (Lehre und Bündnisse 121:34–35)
Diese Verse stehen im Zentrum einer der tiefsten Offenbarungen, die Joseph Smith je empfangen hat. Eingekerkert im Gefängnis zu Liberty, geschwächt und misshandelt, während die Heiligen vertrieben und verhöhnt wurden, empfing er Worte, die bis heute die Grundlage für unser Verständnis geistlicher Vollmacht bilden. Gerade in einer Zeit, in der äußere Macht von Tyrannei und Ungerechtigkeit geprägt war, offenbarte Gott das ewige Gesetz: dass wahre Macht nicht durch Zwang oder Gewalt entsteht, sondern allein durch Rechtschaffenheit.
Lehre und Bündnisse 121:33–46 – Viele sind berufen, aber wenige werden erwählt
Der Herr beginnt in Vers 33 mit einem Bild, das zugleich poetisch und kraftvoll ist: „Wie lange kann ein fließendes Wasser unrein bleiben? … Ebenso gut könnte der Mensch seinen schwachen Arm ausstrecken, um den Missouri in seinem vorgezeichneten Lauf anzuhalten, … wie den Allmächtigen daran hindern, vom Himmel herab Erkenntnis … auszugießen.“ Kein Mensch kann den Lauf eines großen Flusses aufhalten, ebenso wenig kann irgendjemand die Offenbarungen und die Macht Gottes eindämmen. Für die Heiligen in Missouri war dies eine tröstliche Zusicherung, dass trotz Vertreibung und Gefangenschaft der Fluss der Wahrheit weiterströmt. Für uns heute bedeutet das: Auch wenn gesellschaftliche Strömungen den Glauben infrage stellen oder persönliche Krisen uns niederdrücken, Gottes Werk bleibt unaufhaltsam. Das Evangelium wird weiterfließen, und Erkenntnis wird denen zufallen, die sich dafür öffnen. Die Frage ist nicht, ob Gottes Macht wirkt, sondern ob wir uns in ihren Strom stellen.
Doch die entscheidende Wendung kommt mit den Versen 34–35: „Viele sind berufen, aber wenige werden erwählt.“ Jeder von uns ist berufen, Nachfolger Christi zu sein, in der Taufe ein Bündnis zu schließen, im Priestertum oder in Berufungen zu dienen. Doch erwählt werden bedeutet, dass wir uns so verhalten, dass Gott uns sein Vertrauen schenkt. Warum aber scheitern so viele? Der Herr nennt zwei Gefahren: „Weil sie ihr Herz so sehr auf die Dinge dieser Welt gesetzt haben und nach den Ehren der Menschen streben.“ Das ist aktueller denn je. Heute zeigt sich das in subtilen Formen: wenn wir mehr Energie in Karriere, Ansehen oder Konsum investieren als in unser geistliches Wachstum, oder wenn wir Anerkennung auf Social Media mehr suchen als die stille Bestätigung des Heiligen Geistes. Diese Verse laden uns ein, zu prüfen, wo unser Herz wirklich hängt. Ein einfaches Beispiel: Wenn wir in einer Leitungsfunktion einer Gemeinde dienen, ist die Frage entscheidend – tue ich es, weil ich Christus liebe, oder weil ich gesehen und anerkannt werden möchte?
In Vers 36–37 offenbart der Herr ein unumstößliches Gesetz: „Die Rechte des Priestertums [sind] untrennbar mit den Mächten des Himmels verbunden“ und können „nur nach den Grundsätzen der Rechtschaffenheit“ gebraucht werden. Vollmacht ist nicht automatisch gleich Macht. Sie bleibt nur so lange wirksam, wie sie im Einklang mit Gottes Wesen angewandt wird. Wer versucht, Sünden zu verbergen, Stolz zu nähren oder andere unter Druck zu setzen, verliert die Begleitung des Geistes, und dann heißt es: „Amen zum Priestertum oder der Vollmacht jenes Mannes.“ Das betrifft nicht nur Männer mit Priestertumsvollmacht – es ist ein allgemeines Gesetz geistlicher Wirksamkeit. Auch Eltern erleben das: Wenn man versucht, Kinder durch Zwang oder Angst zu lenken, verliert man ihr Herz. Erst durch Liebe, Geduld und Aufrichtigkeit öffnet sich Vertrauen, und das ist der Raum, in dem der Geist Gottes wirken kann.
Vers 39 beschreibt die traurige Realität: „Fast jedermann neigt von Natur aus dazu, sogleich mit dem Ausüben ungerechter Herrschaft anzufangen, sobald er meint, ein wenig Vollmacht erhalten zu haben.“ Joseph Smith wusste, wovon er sprach, denn er hatte erlebt, wie selbst gläubige Menschen, sobald sie in eine Leitungsposition kamen, mit Stolz, Härte oder Ungeduld reagierten. Dieses Muster ist universell: im Beruf, in der Politik, in der Kirche oder in der Familie. Es zeigt, wie notwendig Demut ist, damit wir Vollmacht richtig gebrauchen. Wir können das prüfen, indem wir uns fragen: Nutze ich meinen Einfluss, um andere aufzubauen, oder um mich selbst zu bestätigen?
Die Verse 41–42 stellen das göttliche Gegenmodell vor: „Kraft des Priestertums kann und soll keine Macht und kein Einfluss anders geltend gemacht werden als nur mit überzeugender Rede, mit Langmut, mit Milde und Sanftmut und mit ungeheuchelter Liebe, mit Wohlwollen und mit reiner Erkenntnis …“ Diese Beschreibung deckt sich mit dem Charakter Jesu Christi. Seine Macht bestand nicht in äußerem Zwang, sondern in Liebe, Wahrheit und Geduld. Wer als Leiter, Lehrer, Vater oder Mutter handelt, kann sich daran messen: Rede ich überzeugend oder zwingend? Bin ich geduldig, oder dränge ich? Bin ich echt in meiner Liebe, oder suche ich doch meinen Vorteil? Praktisch bedeutet das etwa, dass ein Bischof nicht durch Drohung führen kann, sondern durch Liebe und Beispiel, oder dass ein Vater sein Kind eher durch beständiges Vorleben des Guten prägt als durch harte Strafen.
Vers 43–44 ergänzen eine feine Balance: „zur rechten Zeit mit aller Deutlichkeit zurechtweisend, wenn vom Heiligen Geist dazu bewogen; und danach … vermehrte Liebe erweisend.“ Manchmal verlangt Liebe auch Klarheit, manchmal müssen wir Fehlverhalten ansprechen. Doch entscheidend ist, dass danach Liebe spürbar wird, damit der andere erkennt: Die Zurechtweisung war kein Angriff, sondern ein Ausdruck von Treue. Auch das gilt nicht nur im Priestertum, sondern in allen Beziehungen. Jeder kennt die Erfahrung, dass eine Korrektur nur dann fruchtet, wenn sie im Klima von Vertrauen und Zuneigung geschieht.
Der Abschnitt gipfelt in den wunderbaren Verheißungen von Vers 45–46: „Lass Tugend immerfort deine Gedanken zieren; dann wird dein Vertrauen in der Gegenwart Gottes stark werden, und die Lehre des Priestertums wird dir auf die Seele niederträufeln wie der Tau vom Himmel. Der Heilige Geist wird dein ständiger Begleiter sein … und deine Herrschaft wird eine immerwährende Herrschaft sein, und ohne Nötigung wird sie dir zufließen für immer und immer.“ Hier wird deutlich: Wahre Macht bedeutet nicht, dass man andere zwingt, sondern dass andere von selbst folgen, weil sie Liebe, Wahrhaftigkeit und den Geist spüren. Das ist die Art von Einfluss, die wirklich Bestand hat. Man könnte sagen: Echte Autorität ist nie erzwungen, sie wird geschenkt – von Gott und von den Menschen, die Vertrauen schenken.
Für uns heute sind diese Verse ein Spiegel. Sie fragen uns: Wonach strebst du wirklich – nach den Ehren der Menschen oder nach der Anerkennung Gottes? Womit füllst du dein Herz – mit der Vergänglichkeit der Welt oder mit der Tugend, die ewig trägt? Und wie übst du deinen Einfluss – durch Zwang oder durch Liebe? Die Verheißung ist gewaltig: Wer sich in Geduld, Sanftmut, Liebe und Tugend übt, dem wird geistlicher Einfluss zufließen, „ohne Nötigung … für immer und immer“.
So zeigt sich am Ende, dass L&B 121:33–46 nicht nur ein Leitfaden für Priestertumsträger ist, sondern ein universelles Gesetz für alle, die im Namen Christi führen, lehren, erziehen oder dienen. Die Macht, die bleibt, ist die Macht der Liebe, die Wahrheit, die trägt, ist die Wahrheit des Evangeliums, und die Herrschaft, die ewig währt, ist die Herrschaft eines reinen Herzens im Einklang mit Gott.
Wie bewahre ich in einer Welt voller Ablenkungen und falscher Werte ein reines Herz, sodass Gottes Macht in meinem Leben wirksam sein kann?