(Bild: Quelle)
“Die Himmel öffneten sich uns, und ich schaute das celestiale Reich Gottes und dessen Herrlichkeit, ob im Leibe oder außerhalb, das kann ich nicht sagen.” (Lehre und Bündnisse 137:1).
Lehre und Bündnisse 137 – Die Vision von 1836 (Joseph Smith)
Historischer Hintergrund und himmlische Szenerie (Verse 1–5)
Am 21. Januar 1836, wenige Wochen vor der Einweihung des Tempels von Kirtland, empfing der Prophet Joseph Smith eine heilige Vision, die einen Höhepunkt der frühen Tempelerfahrungen der Kirche darstellt. Während einer Versammlung im Obergeschoss des noch nicht geweihten Hauses des Herrn öffneten sich die Himmel, und Joseph sah in das celestiale Reich Gottes. Diese Vision wurde Jahre später als Abschnitt 137 aufgenommen und offenbart in einzigartiger Klarheit, wie der Herr seinen Propheten das Wesen des ewigen Reiches und dessen Herrlichkeit erkennen ließ.
Vers 1 – „Die Himmel öffneten sich uns“
Der Bericht beginnt mit den Worten: „Die Himmel öffneten sich uns, und ich schaute das celestiale Reich Gottes und dessen Herrlichkeit, ob im Leibe oder außerhalb, das kann ich nicht sagen.“
Hier spricht Joseph in der Wir-Form („uns“), was darauf hinweist, dass andere anwesende Brüder – darunter wohl sein Vater, Oliver Cowdery, Sidney Rigdon und Frederick G. Williams – an der geistigen Erfahrung teilhatten. Die Formulierung „ob im Leibe oder außerhalb“ erinnert unmittelbar an Paulus’ Worte in 2 Korinther 12:2-3, wo dieser über eine eigene Himmelserfahrung sagt: „ob im Leib, weiß ich nicht, oder außerhalb des Leibes, weiß ich nicht; Gott weiß es.“ Joseph Smith gebraucht damit dieselbe demütige Zurückhaltung: Er bezeugt, was er gesehen hat, ohne die Art der Wahrnehmung erklären zu wollen.
Bemerkenswert ist die Präzision des Ausdrucks „celestiales Reich Gottes“. Dieses Reich ist in späteren Offenbarungen (L&B 76) als die höchste Ordnung himmlischer Herrlichkeit beschrieben, in der Gott, der Vater, selbst wohnt. Dass Joseph dieses Reich „schaute“, deutet darauf hin, dass ihm kein Symbol, sondern eine reale, geistige Wirklichkeit gezeigt wurde – ein Ausblick auf das Ziel aller, die in Treue ihre Bündnisse halten.
Vers 2 – Das Tor aus kreisenden Feuerflammen
Hier tritt ein zentrales Bild der Vision hervor – das Tor. Es steht in der Schrift häufig für Übergang, Zugang und Prüfung. Nur die „Erben“ dieses Reiches können hindurchgehen. Ihre Erbschaft deutet auf Bundestreue hin: Der Eintritt in das Reich Gottes erfolgt nicht zufällig, sondern durch den Bund und die Heiligung.
Das Tor ist „wie kreisende Feuerflammen“. Feuer ist in der Bibel Symbol der göttlichen Gegenwart bzw. Reinigung (vgl. 2 Mose 3:2; Jesaja 6:6–7). Seine „kreisende“ Bewegung erinnert an lebendige, schützende Seraphen, die den Thron Gottes umgeben, oder an das „flammende Schwert“, das nach dem Sündenfall den Weg zum Baum des Lebens bewacht (Genesis 3:24). Das Tor aus Feuer deutet daher sowohl auf Heiligkeit als auch auf Läuterung hin: Nur wer gereinigt ist, kann eintreten.
Joseph beschreibt dieses Tor als von „alles übersteigender Schönheit“. Damit betont er nicht Furcht, sondern Herrlichkeit und Anziehung – das Reich Gottes ist kein Ort des Schreckens, sondern der vollendeten Herrlichkeit. In der himmlischen Ordnung sind Reinheit und Schönheit untrennbar; Licht, Bewegung und Heiligkeit durchdringen einander.
Vers 3 – „Ihre Herrlichkeit ist unbeschreiblich“
Joseph Smith greift hier auf die Sprache des Überwältigtseins zurück: „unbeschreiblich“. Worte reichen nicht aus, um das Gesehene wiederzugeben. Doch er versucht, die Intensität der Herrlichkeit in irdischen Begriffen zu fassen – sie „leuchteten … der Sonne gleich“. Damit zieht er eine Parallele zu L&B 76, wo die Bewohner des celestialen Reiches „in der Herrlichkeit der Sonne“ beschrieben werden (Vers 70).
Die Wendung „die Herrlichkeit des Herrn war auf ihnen“ ist theologisch bedeutsam: Sie deutet auf Teilhabe hin, nicht bloß auf Betrachtung. Die Heiligen im celestialen Reich besitzen nicht nur einen äußeren Glanz, sondern tragen in sich die Herrlichkeit des Herrn. Dies erfüllt das alttestamentliche Ideal, dass der Mensch im Bilde Gottes geschaffen ist (Genesis 1:26), und das neutestamentliche Zeugnis, dass „wir seine Herrlichkeit anschauen … und in dasselbe Bild verwandelt werden von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ (2 Korinther 3:18).
Vers 4 – „Ich sah Vater Adam und Abraham“
Hier verschiebt sich der Blick von der allgemeinen Herrlichkeit des Reiches auf die persönliche Dimension. Joseph erkennt nicht nur die großen Patriarchen der Heiligen Schrift, sondern auch seine eigenen Eltern und Geschwister. Diese Szene steht in enger Verbindung mit der Theologie des Heils für die Familie, die später in Nauvoo vertieft werden sollte.
Dass Joseph „Vater Adam und Abraham“ sieht, deutet auf die Kontinuität des göttlichen Bundes hin. Abraham ist der Urheber des Bundesvolkes, und Adam steht für den Ursprung der Menschheitsfamilie. Beide erscheinen als Bewohner des celestialen Reiches – ein Hinweis darauf, dass das Heil in Christus alle Generationen umfasst. Zugleich sieht Joseph seine Eltern, insbesondere seine kurz zuvor verstorbene Mutter Lucy Mack Smith, in Herrlichkeit. Diese Erkenntnis ist tröstlich und offenbart, dass familiäre Beziehungen im Reich Gottes fortbestehen.
Die Verbindung dieser Personen – von Adam bis zu Josephs eigener Familie – zeigt, dass das Reich Gottes eine Familie von Generationen ist, vereint durch Bündnisse und Gnade.
Vers 5 – „Ich sah meinen Bruder Alvin“
Dieser Vers markiert den Übergang von der reinen Schau (Verse 1–4) zur theologischen Frage, die in den folgenden Versen (6–10) beantwortet wird. Josephs Verwunderung zeigt seine Ehrlichkeit: Er wusste, dass die Taufe die Bedingung für den Eintritt in das Reich Gottes ist (Johannes 3:5). Dennoch sah er Alvin in celestialer Herrlichkeit. Damit bereitete der Herr den Propheten auf die spätere Offenbarung über das Heil für die Toten vor.
Für den Kontext der Verse 1–5 bleibt entscheidend: Diese ersten Szenen offenbaren die himmlische Ordnung, bevor das Prinzip der stellvertretenden Erlösung erklärt wird. Sie zeigen, dass das celestialische Reich kein abstrakter Zustand ist, sondern ein geordneter, lebendiger Bereich der Herrlichkeit, in dem familiäre und bundhafte Beziehungen fortbestehen.
Parallelen und geistliche Bedeutung
Die Vision steht in einer prophetischen Tradition heiliger Thronschauen: Jesaja 6 beschreibt, wie der Prophet „den Herrn sitzen sah auf hohem und erhabenem Thron“, während Johannes in Offenbarung 4 den himmlischen Thron umgeben von Licht, Regenbogen und lebendigen Wesen sah. In 3 Nephi 28:10 verheißt Christus seinen Jüngern: „Ihr werdet in das Reich meines Vaters eingehen … und ihr werdet so wie ich sein.“ Diese Parallelen zeigen, dass Joseph Smiths Erfahrung eine Wiederaufnahme biblischer Muster ist, jedoch im Licht der Wiederherstellung: sie enthüllt nicht nur den Thron Gottes, sondern das „celestiale Reich“ als erreichbares Ziel für die Menschen.
Der Zusatz „die Himmel öffneten sich uns“ ist ebenfalls bedeutend: Er deutet darauf hin, dass solche Offenbarungen in einem gemeinschaftlichen, tempelbezogenen Rahmen stattfinden. Der Tempel fungiert hier, wie schon in Jakobs Vision (Genesis 28:17), als das „Tor des Himmels“. In Kirtland wurde dieser Ausdruck buchstäblich Wirklichkeit.
Schlussgedanke
Abschnitt 137:1–5 gewährt einen seltenen Blick in die himmlische Ordnung und in die Beziehung zwischen Gott, seinen Kindern und der ewigen Familie. Die Vision begann mit geöffneten Himmeln und endete mit der Frage nach der Errettung geliebter Menschen. Zwischen diesen Polen – Herrlichkeit und Sorge – liegt das Herz des Evangeliums: Der Himmel ist real, er ist schön, er ist geordnet, und er ist familiär. Wer treu Bündnisse hält und sich läutern lässt, wird durch das Tor der „kreisenden Feuerflammen“ treten und in jener unbeschreiblichen Herrlichkeit stehen, in der „die Herrlichkeit des Herrn auf ihnen“ ruht.

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