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“Groß ist seine Weisheit, wunderbar sind seine Wege, und das Ausmaß seiner Werke vermag niemand zu ergründen.” (Lehre und Bündnisse 76:2; vergleiche hier)
Die Krone der Unvergänglichkeit in Reim und Rhythmus: Zwei Gedichte zu LuB 76
Die Offenbarung, die heute als Abschnitt 76 im Buch Lehre und Bündnisse bekannt ist, wurde am 16. Februar 1832 in Hiram, Ohio, durch Joseph Smith und Sidney Rigdon empfangen. Sie enthüllt eine beeindruckende Vision über das Jenseits, die Herrlichkeitsgrade des Himmels, das Schicksal der Gerechten und der Gottlosen sowie die barmherzige und zugleich gerechte Ordnung Gottes. Diese Vision war für viele damalige Christen revolutionär, denn sie stellte traditionelle Vorstellungen über Himmel und Hölle grundlegend in Frage. Während sie für einige Gläubige eine Quelle tiefer geistiger Einsicht wurde, sorgte sie bei anderen für Irritation und Unverständnis.
Die Wirkung dieser Offenbarung löste nicht nur theologische Diskussionen aus, sondern inspirierte auch eine poetische Auseinandersetzung mit ihrem Inhalt. Besonders hervorzuheben sind zwei Gedichte: „Vade Mecum“ (lateinisch für „Geh mit mir“) und die poetische Antwort darauf mit dem Titel „A Vision“. Beide Texte bieten nicht nur einen einzigartigen literarischen Zugang zu einer der tiefsten Offenbarungen der Wiederherstellung, sondern zeigen auch, wie sehr sich frühe Kirchenmitglieder bemühten, diese geistigen Wahrheiten zu erfassen, zu verarbeiten und weiterzugeben.
Der Ursprung dieser poetischen Auseinandersetzung liegt bei William W. Phelps, einem gebildeten Journalisten, begabten Dichter und gläubigen Kirchenmitglied, der sich der Kirche im Jahr 1831 anschloss. Tief beeindruckt von der Vision in Abschnitt 76, verfasste er 1835 ein langes Gedicht mit dem Titel „Vade Mecum“. In diesem Gedicht wandte sich Phelps auf poetische Weise direkt an Joseph Smith und bat ihn, mehr über die Vision zu erklären. Die Fragen waren ehrlich, geistlich suchend und von großer Neugier geprägt: Wie sieht es im Jenseits aus? Was erwartet Gerechte und Ungerechte? Wie sieht der Plan Gottes konkret aus?
„Vade Mecum“ war also gewissermaßen ein dichterisches Gebet – ein Ruf nach weiterer Offenbarung und Verständnis. Die bildreiche Sprache und die rhythmische Struktur machten es leicht zugänglich, auch für Leser, die mit theologischen Abhandlungen wenig anfangen konnten. Es ist bemerkenswert, dass dieses Gedicht nie offiziell publiziert wurde, jedoch unter den Mitgliedern zirkulierte und offenbar große Resonanz auslöste.
Die Antwort auf „Vade Mecum“ folgte bald darauf in Form eines weiteren Gedichts mit dem schlichten Titel „A Vision“. Es erschien 1836 in der Kirchenzeitschrift "Messenger and Advocate" in Kirtland, Ohio. Der Text wurde unter dem Namen Joseph Smiths veröffentlicht, jedoch ist die Urheberschaft nicht eindeutig. Viele Historiker und Literaturwissenschaftler nehmen heute an, dass auch dieses Gedicht in großen Teilen von Phelps selbst stammt, möglicherweise in enger Absprache mit Joseph Smith oder in dessen Auftrag.
Das Gedicht „A Vision“ ist eine poetische Nacherzählung der Offenbarung von Abschnitt 76. Es behandelt Themen wie die Vor-Ewigkeit Christi, den Fall Luzifers, das Leben und Wirken Jesu, die Auferstehung, die himmlischen Grade der Herrlichkeit sowie das Los der "Söhne des Verderbens". Die Sprache ist bildhaft, erhaben und zugleich eindringlich. Durch den dichterischen Stil wird der theologische Gehalt nicht verwässert, sondern im Gegenteil: Die Verse laden zur Kontemplation und inneren Vertiefung ein.
Obwohl Joseph Smith selbst keine explizite Stellungnahme zur Autorschaft oder zum Inhalt des Gedichts „A Vision“ hinterlassen hat, gibt es mehrere Indizien, die auf seine Zustimmung hinweisen. Die Veröffentlichung unter seinem Namen in einem offiziellen Kirchenorgan legt nahe, dass er mit Inhalt und Absicht des Gedichts einverstanden war. Zudem war Phelps einer seiner engsten literarischen Mitarbeiter, der in der Redaktion kirchlicher Publikationen sowie bei der Arbeit an Liedtexten und Lehrschriften eine entscheidende Rolle spielte. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass Joseph Smith zumindest beratend oder zustimmend involviert war.
Die Wirkung dieser beiden Gedichte war nachhaltig. „A Vision“ wurde in verschiedenen Zusammenstellungen früher Kirchenliteratur abgedruckt, unter anderem im "Times and Seasons" sowie in Phelps' späteren Gedichtsammlungen. Viele Gläubige lasen dieses Gedicht in Andachten oder zur persönlichen Meditation. In einer Zeit, in der gedruckte Ausgaben von Lehre und Bündnisse noch nicht weit verbreitet waren, trug das Gedicht dazu bei, den Inhalt von Abschnitt 76 auf eingängige Weise zu verbreiten und zu verinnerlichen.
Auch für uns heute bieten diese beiden Gedichte einen bemerkenswerten Mehrwert. Erstens veranschaulichen sie, wie frühe Heilige mit Offenbarung umgingen: nicht distanziert oder akademisch, sondern künstlerisch, betend, meditierend. Sie suchten das Gespräch mit Gott nicht nur durch Studium, sondern auch durch Poesie. Zweitens laden die Verse von „A Vision“ dazu ein, die Inhalte von Abschnitt 76 auf eine neue Weise zu erfassen. Die dichterische Sprache betont die große Hoffnung der himmlischen Ordnung, die Liebe Christi und die Ernsthaftigkeit moralischer Entscheidungen.
Darüber hinaus regen die Gedichte an, sich selbst ebenfalls kreativ mit geistlichen Inhalten auseinanderzusetzen. Sie zeigen, dass Offenbarung nicht nur in Form von Prosa und Doktrin gedacht werden muss, sondern auch in Lied, Gedicht und symbolischer Sprache weiterlebt. Diese Texte können daher gerade in einer Zeit, in der viele nach geistlicher Tiefe suchen, ein Werkzeug zur geistigen Vertiefung sein. Auch wer sich vielleicht schwer tut, rein lehrhafte Texte sofort zu verstehen, kann über die poetische Form einen emotionalen und geistigen Zugang finden.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die beiden Gedichte „Vade Mecum“ und „A Vision“ sind Ausdruck des lebendigen Glaubenslebens der frühen Heiligen. Sie entstanden aus der tiefen Sehnsucht, Gottes Plan zu verstehen, und sind zugleich Zeugnisse einer gelebten, künstlerisch gestalteten Offenbarungsverarbeitung. Ihre Sprache und Bildkraft machen sie auch für heutige Leser zu einer wertvollen geistigen Ressource. Sie helfen, die gewaltige Vision von Abschnitt 76 nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit Herz und Seele zu erfassen.
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