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„Wir glauben, dass Regierungen von Gott zum Nutzen des Menschen eingerichtet worden sind und dass er die Menschen für ihr Verhalten in Bezug auf sie zur Rechenschaft zieht.“ (Lehre und Bündnisse 134:1).
Lehre und Bündnisse 134 – Eine Erklärung im Spannungsfeld zwischen Glauben und Staat
Im Sommer 1835 versammelten sich die Heiligen in Kirtland, Ohio, zu einer besonderen allgemeinen Versammlung. In diesen Jahren war die junge Kirche noch im Aufbau, doch schon tief verwurzelt in einem politischen Umfeld, das sowohl Freiheit als auch Unsicherheit mit sich brachte. Während die Vereinigten Staaten sich ihrer Identität als Verfassungsstaat bewusst waren, standen kleine religiöse Gemeinschaften wie die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage häufig im Verdacht, illoyal oder staatsgefährdend zu sein. Aus diesem Hintergrund heraus entstand Abschnitt 134 – keine Offenbarung, sondern eine sorgfältig formulierte Glaubenserklärung, die am Ende der ersten Ausgabe des Buches veröffentlicht wurde.
Ihr Zweck war ausdrücklich, Missverständnissen vorzubeugen. In der Präambel heißt es, man wolle darlegen, was man „hinsichtlich irdischer Regierungen und Gesetze im Allgemeinen“ glaube, damit der Glaube der Kirche nicht „falsch ausgelegt“ oder „missverstanden“ werde. Die Heiligen bekannten sich öffentlich zu Grundsätzen, die sowohl in ihrem Glauben als auch in den Fundamenten gerechter staatlicher Ordnung verankert sind. Diese Erklärung markiert einen bedeutsamen Moment: Hier treten die Heiligen als Glaubensgemeinschaft bewusst in den öffentlichen Diskurs über Freiheit, Staat und Religion ein.
1. Der amerikanische Hintergrund: Freiheit und Misstrauen
Um Abschnitt 134 historisch zu verstehen, muss man die junge amerikanische Republik des frühen 19. Jahrhunderts betrachten. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 und die Bill of Rights von 1791 garantierten grundlegende Rechte wie Religionsfreiheit, Eigentumsschutz und Versammlungsfreiheit. Diese Ideale standen jedoch in der Praxis oft im Spannungsfeld lokaler Vorurteile und schwacher Rechtsdurchsetzung.
Viele Mitglieder der Kirche kamen aus Neuengland oder dem „Burned-over District“ im Staat New York, einer Region religiöser Erweckungen und intensiver gesellschaftlicher Umbrüche. Ihre Bekehrung zum wiederhergestellten Evangelium machte sie in manchen Gemeinden zu Außenseitern. In Kirtland selbst waren die ersten Jahre zwar von vergleichsweise stabilen Verhältnissen geprägt, doch schon damals gab es in der Presse Gerüchte, die Kirche plane eine „theokratische Regierung“ oder erkenne die Gesetze des Landes nicht an.
In dieser Atmosphäre war es für die junge Kirche wichtig, ein öffentliches Bekenntnis zu ihrer Loyalität gegenüber gerechten Gesetzen abzulegen. Abschnitt 134 sollte zeigen, dass der Glaube der Heiligen die Gesetze respektiert und unterstützt – solange diese die von Gott gegebenen Rechte schützen. Damit stellten sich die Mitglieder bewusst in die Tradition amerikanischer Freiheitsrechte, während sie zugleich ihre eigenen religiösen Grundsätze bekräftigten.
2. Die vier Themenbereiche im historischen Licht
Die Erklärung gliedert sich in vier große Themenabschnitte, die in ihrer Reihenfolge ein durchdachtes Ganzes ergeben.
Verse 1–4 betonen, dass Regierungen göttlichen Ursprungs sind und die Aufgabe haben, das Gewissen, das Eigentum und das Leben ihrer Bürger zu schützen. Zugleich wird klar zwischen staatlicher und religiöser Autorität unterschieden: Während der Staat äußere Handlungen regelt, ist der Bereich des Gewissens allein Gott vorbehalten. Dieser Gedanke war im Amerika des 19. Jahrhunderts nicht selbstverständlich. Viele Staaten hatten zwar keine offiziellen Kirchen mehr, doch gesellschaftlicher Druck und religiöse Mehrheiten bestimmten häufig das öffentliche Leben. Die Heiligen bekannten hier einen universellen Grundsatz: Gewissensfreiheit ist heilig.
Verse 5–8 wenden sich den Pflichten der Bürger zu. Es wird betont, dass Menschen die Regierung, unter der sie leben, stützen und die Gesetze achten sollen, solange diese gerecht sind. Dieser Abschnitt war eine direkte Antwort auf Vorwürfe, die Kirche sei staatsfeindlich oder plane Rebellion. Gleichzeitig spiegelt sich darin das Ideal der amerikanischen Republik wider: ein Bürger, der aktiv zum öffentlichen Wohl beiträgt, statt sich ihm zu entziehen.
Verse 9–10 bekräftigen die Trennung von Kirche und Staat. Keine Religionsgemeinschaft darf staatliche Macht ausüben oder bevorzugt werden. Dieser Grundsatz entsprach den amerikanischen Idealen, war aber auch für die Heiligen von praktischer Bedeutung: Sie wollten weder politische Kontrolle ausüben noch Opfer staatlich bevorzugter Kirchen werden.
Verse 11–12 schließlich rechtfertigen das Recht, sich selbst, Familie und Eigentum zu schützen, wenn staatlicher Schutz nicht greift. Für eine Glaubensgemeinschaft, die bald darauf in Missouri schwerer Verfolgung ausgesetzt war, war dies mehr als eine theoretische Aussage. Viele Heilige mussten erleben, dass lokale Behörden versagten und sie ihr Leben verteidigen mussten. Gleichzeitig wird betont, dass alle Konflikte nach Möglichkeit durch das bürgerliche Recht gelöst werden sollen – ein Zeichen des tiefen Respekts für rechtliche Strukturen.
3. Über Amerika hinaus: Universelle Prinzipien
Obwohl Abschnitt 134 in den USA des 19. Jahrhunderts entstanden ist, enthält er Grundsätze, die weit über diesen Kontext hinausreichen. Viele der formulierten Ideen finden sich später in anderen Nationen und internationalen Rechtserklärungen wieder.
In Europa etwa führte die Revolution von 1848 in mehreren Staaten zur Einführung von Verfassungen, die erstmals Religionsfreiheit garantierten. Auch wenn diese Prozesse unabhängig von der Kirche abliefen, zeigen sie, dass ähnliche Prinzipien – Schutz des Gewissens, Trennung von Kirche und Staat, bürgerliche Rechte – weltweit an Bedeutung gewannen.
Ein besonders deutlicher Bezug findet sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Artikel 18 lautet:
„Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekunden.“
Dieser Artikel spiegelt nahezu wortgleich die Gedanken der Verse 1–4 wider. Auch der Gedanke, dass Religionsgemeinschaften keine staatliche Macht ausüben sollen, entspricht modernen Prinzipien der Neutralität des Staates. In vielen Ländern sind diese Grundsätze inzwischen verfassungsrechtlich verankert – sei es in Europa, Lateinamerika oder Teilen Asiens. Abschnitt 134 ist damit ein frühes Zeugnis dafür, dass die Kirche universelle Prinzipien formulierte, die über ihren unmittelbaren Kontext hinaus wirken.
4. Schlussgedanke: Eine Brücke zwischen Kirche und Staat
Abschnitt 134 ist keine Offenbarung im klassischen Sinn. Dennoch steht dieser Abschnitt als eine historische Brücke zwischen kirchlichem Glauben und staatlicher Ordnung. Die Heiligen bekannten sich öffentlich zu Prinzipien, die sowohl ihrer Religion als auch den besten Ideen der politischen Moderne entsprachen.
Im Rückblick zeigt sich, dass viele dieser Gedanken heute als selbstverständlich gelten, weil sie in internationalen Rechtsordnungen verankert wurden. Doch 1835 war dieses Bekenntnis für eine kleine, umstrittene Glaubensgemeinschaft ein mutiger Schritt. Es zeigte die Bereitschaft, sich als Teil der Gesellschaft zu verstehen – nicht gegen sie, sondern mit ihr, unter göttlichen Maßstäben.
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