“Ich, der Herr, habe zugelassen, dass die Bedrängnis, womit sie bedrängt worden sind, infolge ihrer Übertretungen über sie gekommen ist;” (Lehre und Bündnisse 101:2).
Lehre und Bündniusse 101 – Historischer Hintergrund und theologische Bedeutung
Die Offenbarung, die heute als Abschnitt überliefert ist, wurde am 16. Dezember 1833 in Kirtland, Ohio, empfangen. Der unmittelbare Anlass war die Nachricht, dass die Heiligen in Jackson County, Missouri, wenige Wochen zuvor gewaltsam aus dem Land vertrieben worden waren, das sie als Erbteil Zions betrachteten. Seit 1831 hatten die Gläubigen unter Joseph Smith die Gegend westlich von Independence, Missouri, als den „Ort der Sammlung“ und als den zukünftigen Mittelpunkt des Reiches Gottes angesehen. Dort hatten sie Land erworben, Häuser gebaut und versucht, eine Gesellschaft aufzubauen, die nach den Gesetzen Gottes lebte.
Die Krise von 1833
Die Spannungen mit den älteren Siedlern in Jackson County hatten sich schon früh aufgebaut. Gründe dafür waren kulturelle und religiöse Unterschiede, wirtschaftliche Konkurrenz und das schnelle Wachstum der Heiligen. Zeitgenössische Quellen berichten, dass die Heiligen für ihre religiöse Mission, ihre Organisation und ihre Einheit bewundert, aber auch misstrauisch betrachtet wurden. Antimormonische Publikationen und Versammlungen schürten Ängste, die sich im Sommer und Herbst 1833 zu offener Gewalt steigerten.
Im Juli 1833 zerstörte ein Mob die Druckerei in Independence, in der die Evening and Morning Star herausgegeben wurde, und zwang mehrere Führer der Kirche zu einer Vereinbarung, die Hälfte der Mitglieder bis Anfang 1834 aus der Grafschaft zu entfernen. Doch als es im November tatsächlich zu gewaltsamen Übergriffen kam, wurde die Vereinbarung von den Angreifern ignoriert. Häuser wurden niedergebrannt, Vieh getötet oder gestohlen, und Männer, Frauen und Kinder wurden unter Waffengewalt vertrieben. Die meisten flohen in benachbarte Grafschaften, vor allem nach Clay County.
Die Nachricht erreicht Kirtland
Joseph Smith befand sich zu dieser Zeit in Kirtland, wo der Bau des Tempels in Planung war und die Führung der Kirche organisatorisch weiter ausgebaut wurde. Die erschütternden Berichte aus Missouri trafen im Dezember ein und lösten tiefe Sorge aus. Joseph Smith schrieb in Briefen, dass er Tag und Nacht für die Heiligen betete. Neben dem geistlichen Kummer stand die praktische Frage im Raum: Was sollte man nun tun, nachdem Zion gewaltsam verloren schien?
Inhaltliche Hauptlinien der Offenbarung
Die Offenbarung in Abschnitt 101 ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, weil sie die Katastrophe weder nur als menschliche Tragödie noch ausschließlich als ungerechtes Leid behandelt. Sie beginnt mit der Feststellung, dass das Volk des Herrn in gewissem Maß auch eigene Verantwortung für das Geschehene trägt. Fehlende Treue, Ungehorsam und mangelnde Heiligkeit hätten dazu beigetragen, dass sie „unter das Gesetz der Zucht“ gestellt wurden. Das Leid wird so nicht als sinnlos dargestellt, sondern als ein reinigender Prozess, der das Volk befähigen soll, die Segnungen Zions würdig zu empfangen.
Gleichzeitig wird deutlich gemacht, dass der Herr die Leiden seines Volkes sieht und dass er sie nicht verlassen hat. Die Vertreibung ist nicht das Ende von Zion. Vielmehr verheißt die Offenbarung, dass Zion in der Zukunft wieder aufgebaut werden wird und dass die Heiligen dorthin zurückkehren dürfen, wenn die Zeit reif ist. Diese Perspektive – Leiden jetzt, aber herrliche Verwirklichung später – war für die Glaubensgemeinschaft tröstlich und mobilisierend.
Vision vom Millennium
Ein Abschnitt der Offenbarung beschreibt in poetischen Bildern die Zeit des tausendjährigen Friedens, wenn Christus persönlich auf der Erde regiert. Es wird ein Zustand geschildert, in dem alle Tränen abgewischt werden, in dem die Schöpfung erneuert wird und die Menschen in Sicherheit und Freude leben. Diese Darstellung steht im Kontrast zur gegenwärtigen Notlage und bietet den Gläubigen eine eschatologische Hoffnungsperspektive: Das Ziel ist nicht nur die Wiederherstellung der Siedlungen in Missouri, sondern die Errichtung eines Reiches, das über diese Zeit hinaus Bestand hat.
Das Gleichnis vom Edlen und seinen Dienern
Ein zentrales Bild der Offenbarung ist das Gleichnis vom Edlen, der seinen Dienern befiehlt, einen Weinberg zu pflanzen, einen Turm zu bauen und ihn zu bewachen. Die Diener pflanzen zwar die Bäume, unterlassen es aber, den Turm zu errichten. Als Feinde kommen und den Weinberg verwüsten, wird deutlich, dass es an Wachsamkeit und Gehorsam gefehlt hat. Der Edle befiehlt daraufhin, den Turm wieder aufzubauen und den Weinberg zu schützen.
Historisch verstanden bezieht sich dieses Gleichnis auf den Aufbau Zions und den Schutz seiner geistlichen und materiellen Grundlagen. Die „Diener“ können sowohl einzelne Mitglieder als auch Führer der Kirche darstellen, die ihrer Aufgabe nicht vollständig nachgekommen sind. Zugleich ist es eine Aufforderung an alle Gläubigen, künftig wachsamer und gehorsamer zu sein, damit die Arbeit des Herrn nicht durch Vernachlässigung gefährdet wird.
Sammlung und heilige Orte
Die Offenbarung betont mehrfach die Notwendigkeit, dass die Heiligen sich weiterhin sammeln und ihre Gemeinschaft in geordneten, vom Herrn bestimmten Orten festigen. Auch wenn die Rückkehr nach Jackson County vorerst verschoben ist, bleibt das Prinzip der Sammlung in Kraft. Heilige Orte – sei es in Kirtland, Far West oder anderswo – sollen als Zentren geistlichen Lebens dienen.
Politische Dimension: Die Verfassung und das Recht auf Freiheit
Ein besonders bemerkenswerter Teil des Abschnitts würdigt die Verfassung der Vereinigten Staaten als von Gott inspiriert. Sie habe den Zweck, jedem Menschen das Recht auf Freiheit und Eigentum zu sichern und vor Unterdrückung zu schützen. Die Heiligen werden ermahnt, ihre Rechte auf legale Weise zu verteidigen, notfalls bis vor die höchsten Gerichte. Hier wird eine deutliche Verbindung zwischen göttlichem Auftrag und bürgerlicher Ordnung gezogen: Der Aufbau Zions geschieht nicht im rechtsfreien Raum, sondern in Achtung und Nutzung der rechtlichen Möglichkeiten, die Gott durch menschliche Institutionen bereitgestellt hat.
Diese Perspektive war praktisch relevant, weil die Führer der Kirche tatsächlich planten, eine formale Petition an die Regierung Missouris und, falls nötig, an den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu richten. Dieser Teil der Offenbarung wurde als direkte Aufforderung verstanden, juristische und politische Mittel zu ergreifen, um Gerechtigkeit zu erlangen.
Durchhalten und Beharrlichkeit
Die letzten Verse des Abschnitts greifen das biblische Gleichnis von der hartnäckigen Witwe (Lukas 18) auf, die immer wieder zum Richter ging, bis dieser ihr Recht verschaffte. Die Heiligen sollten nicht in Resignation verfallen, sondern in beständigem, gesetzmäßigem Handeln für ihre Rechte eintreten, und dabei auf die Unterstützung Gottes vertrauen.
Diese Ermahnung verband geistliche und praktische Ebenen: Das Ringen um Zion war sowohl ein Glaubensakt als auch ein gesellschaftlicher Prozess. Die Mitglieder mussten bereit sein, für ihre Rechte einzustehen, und gleichzeitig im Glauben fest zu bleiben, auch wenn die Erfüllung der Verheißungen noch ausstand.
Wirkungsgeschichte
Die Offenbarung von Dezember 1833 prägte die Haltung der Kirche in den folgenden Monaten und Jahren. Sie motivierte zur Organisation des sogenannten „Zionslagers“ im Jahr 1834, einer Expedition von über 200 Männern aus Ohio und anderen Staaten nach Missouri, um den vertriebenen Heiligen zu helfen und die Rückkehr nach Jackson County zu ermöglichen. Zwar führte das Zionslager nicht zu einer unmittelbaren Rückkehr, doch festigte es das Gemeinschaftsgefühl und bereitete die Führerschaft künftiger Apostel vor.
Die theologische Deutung von Leid als Läuterung, die Verbindung von geistlicher und bürgerlicher Ordnung sowie die Betonung von Sammlung und heiligen Orten sind bis heute prägende Themen in der Auslegung von Abschnitt 101. Für die damaligen Mitglieder bot die Offenbarung Trost, Orientierung und konkrete Handlungsanweisungen in einer Zeit tiefer Unsicherheit.
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