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“Und wahrlich, darin habt ihr weise gehandelt, denn der Herr verlangt von der Hand jedes Treuhänders, dass er Rechenschaft über seine Treuhandschaft ablege, sowohl in der Zeit als auch in der Ewigkeit.” (Lehre und Bündnisse 72:3).
Am 4. Dezember 1831 versammelten sich mehrere Älteste und Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Kirtland, Ohio. Sie wollten ihre Pflichten besser verstehen und sich geistlich erbauen lassen. Zu diesem Anlass empfing der Prophet Joseph Smith mehrere Offenbarungen, die heute als Abschnitt 72 zusammengefasst sind. Diese Offenbarungen kamen in einer Zeit des raschen Wachstums der Kirche, was neue organisatorische Herausforderungen mit sich brachte – insbesondere im Hinblick auf die Verwaltung materieller Güter, die Umsetzung des Gesetzes der Weihung und die Versorgung Bedürftiger. Abschnitt 72 ist daher in vielerlei Hinsicht ein praktisches Dokument, das aber zugleich tiefgreifende geistige Prinzipien offenbart, die bis heute für die Kirche und ihre Mitglieder gelten.
Historischer Hintergrund
Zu Beginn der Offenbarung gab es nur einen Bischof in der Kirche: Edward Partridge. Er war im Februar 1831 zum ersten Bischof ordiniert worden und lebte nun in Missouri, dem „Land Zion“, wohin viele Heilige bereits gezogen waren. Doch in Kirtland, Ohio, blieb eine große Gruppe zurück, die nun ohne örtlichen Bischof war. Da die Kirche organisatorisch noch in den Anfängen steckte, stellte sich die Frage, ob ein zweiter Bischof notwendig sei – und falls ja, wer diese Berufung erhalten solle. Die Antwort kam durch göttliche Offenbarung.
Die ersten acht Verse legen fest, dass es ratsam sei, einen weiteren Bischof einzusetzen, und Newel K. Whitney wird als der von Gott berufene Mann genannt. Whitney war ein wohlhabender Kaufmann und bereits zuvor als Agent der Kirche tätig gewesen. Er hatte in Kirtland einen Laden geführt, der später zum ersten Bischofsvorratshaus wurde. Als Joseph ihm die Offenbarung mitteilte, sagte Whitney bescheiden: „Ich kann in mir selbst keinen Bischof erkennen.“ Joseph erwiderte, er solle den Vater selbst fragen. Whitney betete, erhielt eine persönliche Bestätigung vom Herrn („Deine Stärke ist in mir“) und nahm die Berufung an.
Nach der Berufung werden in den Versen 9 bis 23 die Pflichten des neuen Bischofs dargelegt. Dazu gehörten die Verwaltung der finanziellen Mittel, die Aufsicht über das Vorratshaus, die Verantwortung für Bedürftige sowie die Entgegennahme von Rechenschaftsberichten der Ältesten über ihre Treuhandschaften. Schließlich regeln die Verse 24 bis 26 die Notwendigkeit, dass jeder, der nach Zion ziehen will, zuvor eine Empfehlung vom Bischof einholen muss – eine Maßnahme, die helfen sollte, die geordnete Besiedlung Missouris sicherzustellen.
1. Das Prinzip der Treuhandschaft und Rechenschaftspflicht (Verse 3–5)
Ein zentrales Thema des Abschnitts ist das Prinzip, dass jeder Mensch vor Gott ein Treuhänder ist. Der Herr verlangt von jedem „Treuhänder, dass er Rechenschaft über seine Treuhandschaft ablege, sowohl in der Zeit als auch in der Ewigkeit“ (V. 3). Das bedeutet: Alles, was wir haben – Besitz, Talente, Zeit, Einfluss – ist uns von Gott anvertraut. Wir sind nicht Eigentümer im eigentlichen Sinn, sondern Verwalter. Und eines Tages werden wir dem Herrn gegenüber Rechenschaft darüber ablegen müssen, wie wir mit dem umgegangen sind, was er uns anvertraut hat.
Dieses Prinzip betrifft nicht nur Bischöfe oder Kirchenführer, sondern jeden einzelnen. Es lädt uns ein, unser Leben bewusst zu führen, unsere Prioritäten zu überdenken und unsere Entscheidungen im Licht der Ewigkeit zu treffen. Es erinnert uns auch daran, dass geistiger Fortschritt und zeitlicher Wohlstand nicht getrennt voneinander stehen, sondern Teil eines größeren göttlichen Plans sind.
2. Die Berufung zum Bischof und geistige Bestätigung (Verse 8, Kontext)
Die Berufung Newel K. Whitneys zeigt, wie geistige Führerschaft in der Kirche funktioniert. Obwohl Joseph Smith die Offenbarung empfangen hatte, wurde Whitney eingeladen, selbst um Bestätigung zu bitten. Dies zeigt das Prinzip der persönlichen Offenbarung. In der Kirche wird niemand zur Führung gezwungen – Berufungen beruhen auf Inspiration, aber auch auf freiem Willen und eigener geistiger Überzeugung. Dieses Zusammenspiel von Offenbarung, Bescheidenheit und persönlicher Bestätigung ist ein Muster, das bis heute Gültigkeit hat.
3. Verantwortung des Bischofs für zeitliche Belange (Verse 9–15)
Der Bischof wurde damit beauftragt, das Vorratshaus zu verwalten, finanzielle Mittel zu organisieren und sich um die Bedürftigen zu kümmern. Damals, zu einer Zeit, in der die Kirche stark auf das Prinzip der Weihung setzte, war diese Rolle entscheidend für das tägliche Überleben vieler Mitglieder. Whitney war als Geschäftsmann bestens für diese Aufgaben vorbereitet, aber auch geistig demütig genug, um sie im Sinne des Herrn zu erfüllen.
Heute liegt in dieser Beschreibung das Vorbild für das kirchliche Wohlfahrtsprinzip. Noch immer sind Bischöfe u. a. dafür verantwortlich, die Armen zu versorgen, allerdings in enger Zusammenarbeit mit Gemeinderäten, der Frauenhilfsvereinigung und weiteren Diensten. Der Grundsatz, dass die Kirche ihre Mitglieder im Bedürfnis unterstützt, aber auch Selbsthilfe betont, wurde hier erstmals in einem organisatorischen Rahmen offengelegt.
4. Das Gleichgewicht zwischen Geben und Empfangen (Verse 11–13)
Diese Verse stellen sicher, dass der Empfang von Unterstützung mit Rechenschaft, Eigenleistung und Transparenz verbunden ist. Wer etwas empfängt, soll dafür – wenn möglich – bezahlen oder einen Ausgleich leisten. Wer dazu nicht in der Lage ist, dessen Bedürfnis wird weitergeleitet, und der Bischof in Zion soll helfen. Damit wird ein Gleichgewicht zwischen Gnade und Gerechtigkeit geschaffen. Der Hilfeempfänger wird weder beschämt noch seiner Würde beraubt, aber gleichzeitig zur Mitarbeit eingeladen. Dieses Prinzip ist bis heute in der kirchlichen Wohlfahrtsarbeit sichtbar.
5. Geordnete Sammlung nach Zion (Verse 24–26)
Die Offenbarung beendet mit einer Klarstellung zur Sammlung der Heiligen nach Zion. Sie sollen nur nach Missouri ziehen, wenn sie eine Empfehlung vom Bischof erhalten haben. Dies war notwendig, weil zu viele Mitglieder auf eigene Faust nach Missouri kamen und damit die vorhandenen Ressourcen überforderten. Die Maßnahme hatte das Ziel, sowohl Ordnung als auch geistige Vorbereitung sicherzustellen.
Auch heute gilt: Der Herr liebt geordnete Prozesse. Selbst geistige Bestrebungen wie Mission, Tempelarbeit oder Ortswechsel in der Kirche sollten im Einklang mit göttlich inspirierten Richtlinien und unter geistiger Führung erfolgen. Die Botschaft lautet: Eifer ist gut, aber er muss durch Weisheit ergänzt werden.
Bedeutung für uns heute
Abschnitt 72 zeigt eindrücklich, wie das Reich Gottes sowohl geistlich als auch organisatorisch geführt wird. Es offenbart Grundprinzipien, die in einer modernen Welt voller Individualismus, materieller Orientierung und Unverbindlichkeit besonders wichtig sind:
- Jeder hat eine Treuhandschaft, für die er persönlich vor Gott verantwortlich ist.
- Geistige Berufungen beruhen auf Offenbarung, aber auch auf freiem Willen und eigener Bestätigung.
- Führung bedeutet nicht Herrschaft, sondern Dienst – sowohl geistlich als auch materiell.
- Hilfeleistung soll dem Bedürftigen dienen, aber auch seine Selbstständigkeit fördern.
- Das Werk Gottes erfordert nicht nur Glauben, sondern auch Ordnung und Organisation.
In einer Welt, die zunehmend unübersichtlich und egozentriert ist, laden uns diese Lehren ein, ein Leben in Verantwortung, Gemeinschaft, Barmherzigkeit und göttlicher Ordnung zu führen.
Abschnitt 72 ist damit nicht nur ein historisches Verwaltungsdokument, sondern ein lebendiger Leitfaden für modernes Jüngertum.